Selma Alaçam
Istiklal Marsi / Turkish National Anthem (2010) DVD loop; 4:28 min. Courtesy the artist
Ausstellungen

SELMA ALAÇAM – NICOLÒ DEGIORGIS

17.6.2011—30.7.2011

kuratiert von Luigi Fassi

Selma Alaçam (1980, lebt und arbeitet in Karlsruhe, Deutschland) und Nicolò Degiorgis (1985, lebt und arbeitet in Bozen) analysieren in ihren Arbeiten die komplexen Beziehungen zwischen den islamischen und den westlich geprägten Kulturkreisen im gegenwärtigen Europa. Diese Thematik ist heute von zentraler Bedeutung. Was weiß die breite Öffentlichkeit über die Immigration und die Immigranten aus den islamischen Ländern auf unserem Kontinent? Was wissen wir über das Leben in Familien, in denen verschiedene Kulturen aufeinandertreffen, oder über die Möglichkeiten und Perspektiven der Integration für Einwanderer aus islamischen Ländern? In ihren Arbeiten gehen Alaçam und Degiorgis zunächst von ihrem je eigenen kulturellen Background aus. Sie entwickeln künstlerische Strategien, die es ihnen ermöglichen, viele jener Fragestellungen aufzugreifen, die im öffentlichen europäischen Diskurs verdrängt werden. So gelingt es den beiden Künstlern, einen tiefergehenden und komplexeren Zugang zur gesamten Thematik zu finden.

Hidden Islam (2009-11) ist ein Fotoprojekt von Degiorgis, der sich auf eine Entdeckungsreise in die islamischen Gebetsräume Norditaliens begibt. Bis heute gibt es in Italien nur zwei offizielle Moscheen. Dagegen zählt die islamische Bevölkerung derzeit über eine Million Einwohner. Nun hat Degiorgis all jene Gebetsräume fotografisch festgehalten, in denen die vielen Moslems im heutigen Italien ihre Religion zelebrieren.

Diese improvisierten Gebetsräume befinden sich meist in den Peripherien der großen Städte, in prekären und verlassenen Gegenden, etwa in alten Garagen oder aufgelassenen Scheunen und Lagerhallen. Degiorgis hat mit der Zeit ein nachhaltiges Vertrauensverhältnis zu verschiedenen islamischen Gemeinschaften aufgebaut. So konnte er schließlich auch Momente des kollektiven Gebets und religiöse islamische Rituale festhalten. Auf diese Weise gelingt es ihm, ein analytisches Porträt einer verdrängten bzw. an den Rand gedrängten Realität Italiens zu machen. Die Schauplätze reichen dabei von Piemont bis Venetien, von der Lombardei bis nach Südtirol. Auf den ersten Blick fordert seine Arbeit dazu auf, sich mit der unwürdigen Situation auseinander zu setzen, in der sich die islamische Gesellschaft heute in Italien befindet. Auf der anderen Seite zeichnet Hidden Islam damit aber auch ein komplexes und problematisches Bild des heutigen Italien und die fortwährenden Schwierigkeiten des Landes, sich als moderne, fortschrittliche Gesellschaft zu begreifen.
Selma Alaçam analysiert in ihrer Arbeit auf verschiedenste Weise das Verhältnis mit ihrer eigenen, doppelten Identität als deutsche und türkische Staatsbürgerin, die in Deutschland islamisch erzogen worden ist. Isolated and Protected (2009)ist eine Videoinstallation, die aus sieben Monitoren besteht, auf denen häusliche Szenen einer türkisch-muslimischen Familie in Deutschland zu sehen sind. Die Sicht wird durch ein Gitterwerk aus schwarzen Perlen eingeschränkt. Diese ornamentalen Muster des Sichtschutzes sind typische Verzierungen aus der arabischen Kultur. Die Betrachter des Videos erhalten auf diese Weise nur beschränkte bzw. partielle Sicht auf das Geschehen. Die unterbrochene Sichtbarkeit “isoliert und beschützt” zugleich die Bilder vor dem fremden Blick, als Symbol der Kommunikationsschwierigkeiten und des komplexen kulturellen Austausches zwischen der westlichen und der islamischen Kultur im heutigen Europa.
In Haare (2009) ist die Künstlerin selbst zu sehen. Sie kämmt ihre Haare, um danach eine Perücke aufzusetzen, die mit ihrem eigenen Haar identisch ist. Diese Szene gibt Einblick in eine Strategie, die von vielen jungen Frauen in der Türkei angewandt wird, um ihrem Glauben treu zu bleiben, ohne sich selbst zu verneinen. Der Islam verbietet es, das eigene Haar in der Öffentlichkeit zu zeigen. Durch das Aufsetzen der Perücke befolgen die jungen Frauen die Regeln ihrer Religion, ohne auf ihr modisches Erscheinungsbild verzichten zu müssen.

National Anthem (2010) zeigt Ausschnitte aus Videos, welche die Künstlerin von der Internetplattform YouTube heruntergeladen hat. Darauf sind kleine Kinder zu sehen, die in der Türkei in privatem Rahmen dabei aufgenommen wurden, wie sie mit großer Inbrunst und Hingabe die Nationalhymne ihres Landes singen. Kommentarlos und ohne die Bilder zu manipulieren, präsentiert die Künstlerin diese Videos, die beim Betrachten großes Unbehagen auslösen, da sie unmittelbar an die Gefahren des Nationalismus erinnern und als ideologische Manipulation wahrgenommen werden, die von der Welt der Erwachsenen auf die Kinder übertragen wird.