Chto delat? Tower Songspiel, video, 2010 Courtesy the artist
Ausstellungen

CHTO DELAT?

27.11.2010—22.1.2011

kuratiert von Luigi Fassi

Das Künstlerkollektiv Chto delat? aus St. Petersburg besteht aus Künstlern, Kritikern, Philosophen und Autoren, die sich zu einer vielfältigen Plattform zusammengeschlossen haben. Sie erheben Anspruch auf eine kulturelle und politische Reflexion, die auf halbem Wege zwischen Aktivismus und künstlerischer Produktion liegt. Das kritische und zugleich praktische Anliegen der Arbeiten von Chto delat?, die am politisch epischen Theater Bertold Brechts didaktische Anleihen nehmen, versucht im Betrachter den Sinn für seine individuelle Verantwortung wachzurufen. Unter Verwendung satirischer Mittel, die sich stark an die Groteske und die Parodie anlehnen, eruieren sie die Beweggründe, die zum gesellschaftlichen Wandel führen. In diesem Kontext erforscht Chto delat? auf innovative Weise die politische Tradition der Theorie-Praxis-Beziehung, wie sie typisch für die Geschichte der europäischen Linken ist. Dabei bewegt sich das Kollektiv im Inneren eines hybriden Kunstfeldes. Von dort lanciert es die Erarbeitung neuer gemeinsamer Wertvorstellungen und neuer Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens im Namen des zivilen Fortschritts.

Im Rahmen der ersten Ausstellung des St. Petersburger Kollektivs in Italien präsentiert Chto delat? eine Trilogie, die in den letzten beiden Jahren entstanden ist und besonderes Augenmerk auf die russische Gesellschaft nach der Ära der Perestroika legt. Diese Zeit war von einer tiefen politischen und gesellschaftlichen Krise gekennzeichnet, die das soziale Gefüge Russlands erschütterte. Unter der Ägide der bürokratischen und ideologischen Strukturen eines autoritären Kapitalismus, der sich des ganzen Landes bemächtigt hatte, begann der vorübergehende Zerfall der russischen Gesellschaft.
Der Titel der drei Arbeiten Songspiel nimmt Bezug auf das Musiktheater von Bertold Brecht und Kurt Weill, wo Theater mit populärer Musik verbunden wird, um politische Botschaften und Reflexionen einem breiteren und heterogenen Publikum zugänglich zu machen. Perestroika Songspiel (2008), Partisans Songspiel (2009) und Tower Songspiel (2010) zeichnen sich somit durch eine Zusammenlegung verschiedener Erzählstile und Ausdrucksmittel aus, die aus unterschiedlichen Traditionen herrühren.

So wird die Rolle des Chors in der klassischen antiken Tragödie – als allwissende Stimme, die mehrmals im Verlauf der dramatischen Entwicklung des Geschehens auf der Bühne erscheint – dazu benutzt, um der methodologisch kritischen Strenge des Brechtschen Theaters auf die Spur zu kommen. Dazu werden antirealistische Ausdrucksformen und Stilmittel der grotesken Parodie verwendet, die zur Darstellung des Geschehens in einem quasi-allegorischen Sinn führen.
Perestroika Songspiel begibt sich auf die Spurensuche des kulturellen Erbes der Perestroika. Im Mittelpunkt der Arbeit steht das politische und gesellschaftliche Scheitern jener Zeit, die unmittelbar auf die Perestroika folgte, nachdem die Mobilisierung der Bevölkerung und die Euphorie der Befreiung verklungen war. Die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Akteure, unter anderem Manager und Revolutionäre, Konservative und Fortschrittsgläubige, sie alle haben radikal voneinander abweichende Vorstellungen in Bezug auf die Zukunft ihres Landes. Voller Ironie und Sinn für karikatureske Überzeichnung entschleiert die Video-Arbeit Perestroika Songspiel die Schwierigkeiten der heutigen Gesellschaft, gemeinsam an der politischen Zukunft des Landes zu arbeiten. Partisans Songspiel befasst sich hingegen mit dem Thema des gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Wiederaufbaus von Belgrad. Auch die Hauptstadt Serbiens ist von radikalen Konfliktsituationen und nicht zuletzt von der Schwierigkeit gezeichnet, einen tatsächlichen Demokratisierungsprozess des gesellschaftlichen Gefüges zu erwirken. Der Neokapitalismus der jungen Republik unterdrückt die am stärksten benachteiligten Schichten, darunter Arbeiter, Roma, Schwule, Lesben und Kriegsveteranen. Ihnen widmet die Arbeit des St. Petersburger Kollektivs breiten Raum innerhalb einer sichtbaren symbolischen Formalisierung. Im Zentrum der Satire Tower Songspiel (koproduziert von ar/ge kunst Galerie Museum) steht dagegen eine öffentliche Auseinandersetzung, die derzeit in St. Petersburg stattfindet. Es geht um den Bau der neuen Gazprom-Zentrale, jener Gesellschaft, die das Monopol der Energieversorgung des ganzen Landes in ihren Händen hält. Unter Verwendung satirischer Effekte inszeniert Chto delat? eine Konferenz zwischen Konzernmanagern und St. Petersburger Kommunalpolitikern. Im Verlauf der Konferenz versuchen die beteiligten Gruppen, Strategien der Korruption und des Populismus zu entwickeln, um einen gesamtgesellschaftlichen Konsens für den neuen Turmbau zu erzielen.

Die Trilogie bildet in ihrer Gesamtheit einen Raum des politischen Dissenses, der im Betrachter den Wunsch weckt, mitzumachen, mitzudenken und im Sinne der individuellen und kollektiven Vernunft auf politische Missstände zu reagieren.
Die Trilogie wird von einer Videoarbeit mit dem Titel Builders (2004) sowie von einem Kaleidoskop an Wandzeichnungen begleitet. Dabei werden Zeitungsausschnitte und Grafikbeilagen in Form von Collagen und Zeichnungen auf den Wänden der Ausstellungsräume angebracht. Auf diese Weise versucht Chto delat?, einen einheitlichen Raum zu schaffen, in dem die verschiedenen Ausdrucksweisen des Dissenses und des kritischen Widerstandes, von der Vergangenheit bis zur Gegenwart, miteinander kommunizieren.