Exhibiton view, Hamburg-Bozen, 2002
Ausstellungen

AMBURGO-BOLZANO – SPAZI FAMILIARI

11.4.2002—19.5.2002

Matthias Berthold, Till F.E.Haupt, Philipp Schewe
kuratiert von Sabine Gamper Letizia Ragaglia Anne-Marie Melster

Junge Kunst aus Hamburg. Die Ausstellung führt unterschiedliche Medien einer künstlerischen Generation zusammen. Nicht nur, um einen querschnittartigen Einblick in Hamburgs aktuelles Kunstgeschehen zu bieten, sondern vor allem, um ästhetisches Verständnis und rationale Grundlagenforschung zu verknüpfen. Die Schnittmenge der Positionen bündelt sich in dem Begriff Raum. Der Betrachter findet geistige Denkräume, Lebensgestaltungsräume, Landschaftsräume, Körperräume, Erinnerungsräume, virtuelle und private Räume. In Anbetracht der intensiven künstlerischen Auseinandersetzung mit der sogenannten Cyber-Gesellschaft im Laufe der letzten Jahre wurde in dieser Ausstellung ganz bewusst Wert auf vielfältige Ausdrucksformen gelegt, die Photographie und Videokunst mit einschließen, gleichzeitig aber eine sinnliche und haptische Berührung zulassen, ja sogar herausfordern. Der Betrachter partizipiert im Ausstellungsprozess, wird ein Teil der Kunstwerke. In unterschiedlichen Dimensionalitäten und sensitiven Ansprüchen wird der Betrachter in die Pflicht genommen, sich das einzelne Werk im Sinne Pierre Bourdieus zu eigen zu machen: „Das Kunstwerk im Sinne eines symbolischen – und nicht so sehr ökonomischen Gutes (auch das nämlich kann es sein) – existiert als Kunstwerk überhaupt nur für denjenigen, der die Mittel besitzt, es sich anzueignen, d.h. es zu entschlüsseln.“ In Hamburg macht sich eine Bewegung bemerkbar, die die jungen Künstler in private, sinnlich erfassbare Räume führt. Mit Witz und Ironie, mit plastischen Stoffen und kräftigen Farben wird mit Phantasiewelten experimentiert. Es entstehen figurative Sphären, die die Künstler durch Besinnung auf ihre persönlichen Traumwelten entdecken. Sie kreieren ideelle und virtuelle Lebensgestaltungsräume, indem sie sich autokritisch mit ihren Körpern, Erinnerungen, Gefühlen und ihrem Intellekt auseinandersetzen. Das Bedürfnis nach Ästhetik und privater Sinnlichkeit, nach Schutz und Geborgenheit ist gerade heute ein allzu gegenwärtiges Zeichen des Umbruchs in unserer Gesellschaft. In Zeiten der virtuellen Überspanntheit, der medialen Überreizung haben intime Räume wieder an Bedeutung gewonnen, in die das Individuum zurückweichen und sein Bedürfnis nach Vertrautheit auffüllen möchte. In dieser Ausstellung findet der Betrachter an verschiedenen Orten die Möglichkeit des Eintauchens in solche vom Künstler erschaffenen mentalen und intellektuellen Refugien. Die Ausstellung bietet nicht nur reflektierte oder konstruierte Lebensräume an, sondern zeigt auch Möglichkeiten für zukünftiges Leben auf. Vorausgesetzt der Betrachter lässt sich auf derartige Gedankenkonstrukte ein und spielt das Spiel der kulturellen Konditionierungen mit. Der ortlose Mensch, der sich selbst zum „Ort der Bilder“ verwandelt hat, wie es Hans Belting beschreibt , wird hier auf spezifische Weise seiner Ortlosigkeit beraubt und in einen Entstehungsprozess von Kunst und assoziativer Zugehörigkeit mit eingebunden. Ist der durch virtuelle Welten gejagte und von dramatischen Ereignissen verängstigte Mensch nicht auf der Suche nach einer neuen emotionalen Begrifflichkeit, nach einer Neu-Definition unseres Wertesystems und nach konstanter Gebundenheit im weitesten Sinne? Auf der Suche nach neuen Lebensgestaltungsräumen öffnet sich letztendlich wieder der Blick zurück ins Private. Matthias Berthold entfremdet mit Anweisungen die monochromen Denkschemata, konterkariert die Funktionen alltäglicher Gebrauchsgegenstände, formuliert als Manifestation des Absurden, schafft Prototypen von Wohnräumen, die höchste Anforderungen an ihre Bewohner stellen, fertigt und vertreibt das ultimative Universalwerkzeug, formt aus Papier und Sand eine tatsächlich wirksame Dunkelbirne. Die Ironie in seinen Arbeiten, das Infragestellen alltäglicher menschlicher Routine, lässt den Betrachter bei seinen Arbeiten verweilen, entdeckt dieser erst auf den zweiten oder dritten Blick die Vielschichtigkeit und Hintergründigkeit seiner Sozialkritik. Der Inhalt, die Botschaft seiner Arbeiten ist meist nur über einen intellektuellen Umweg zu erfahren, was den Betrachters besonders herausfordert und diesen in einen vom Künstler erschaffenen Denkraum situiert. Die Rezeption des Bildes der Landschaft ist der Ausgangspunkt der Werke bei Anna Gujónsdóttir. Im Mittelpunkt stehen die unterschiedlichen Formen der Annäherung an die gesuchte Natur. Diese Annäherung, geprägt von mediatisierter Wahrnehmung, wird hauptsächlich in Gemälden, aber auch in Objekten, Photographien und Installationen transportiert und stellt auf diese Weise eine Dokumentation und Verkörperung des Zugriffes auf die Natur dar. Ihre Installationen aus Steinsammlungen, Zeichnungen, Graphiken und Photographien erinnern an die Wunderkammern im 16. Jahrhundert. Auch sie sammelt Gegenstände, um sich ein Bild von der Welt und dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur zu machen. Die gesammelten Materialien werden ihres ursprünglichen Funktionszusammenhanges beraubt, was eine Neudeutung zulässt. Ihre Tafeln, Landschaftsskizzen, Pflanzenstudien und Detailaufnahmen verweisen als künstlerische Collagen und wissenschaftliches Anschauungsmaterial auf das Vorgehen von Naturkundemuseen. Landschaft fungiert als Imaginationsraum, den der Betrachter besucht und darin Teil einer Inszenierung wird, in der kulturelle Unterschiede und der menschliche Umgang mit Natur präsentiert werden. Christian Hahns psychedelische Ölbilder nutzen zwar eine traditionsreiche Technik, beinhalten allerdings entfremdete Botschaften. Der Betrachter wird verwirrt mit scheinbar bekannten Assoziationen. Hinterfragt er beim zweiten Blick die tatsächlichen Motive, stellt er fest, dass es sich bei den dargestellten Elementen um Phantasiegebilde handelt, die lediglich einen Wiedererkennungswert konnotieren. Die großformatigen Gemälde ziehen nicht nur wegen ihrer fröhlichen Farbigkeit in Bann, sondern die an Computeranimationen erinnernden Motive lassen eine Multidimensionalität entstehen, in der es sich zu verlieren droht. Der Künstler schafft Welten, die sich dem Betrachter öffnen, aber nicht offenbaren. Es gilt, die Bilder mit Bedeutung zu füllen und darin die verschiedenen Wirklichkeitsebenen, in denen wir leben, wiederzufinden. Der Gegensatz zwischen organischen, plastischen und zeichnerischen Elementen kennzeichnet die Malerei Hahns. In ihrer spezifischen Dynamik suggerieren die Bilder Anziehung und Distanz zugleich. Eines der künstlerischen Themen von Till F. E. Haupt ist die zyklische Bewegung im Raum, die er anhand von Reisedokumentationen wiedergibt. Er legt die Landkarten der jeweils bereisten Region zugrunde, übermalt sie u.a. mit Nachzeichnungen der vorgenommenen Reiserouten. Bei der Übermalung rücken die bekannten Landschaften in den Focus, nicht berührte Orte treten in den Hintergrund. Zugehörig zu diesen Gemälden sind Reisetagebücher und Photographien, die den Ablauf und das Erlebte dokumentieren sollen.
Ein weiteres zentrales künstlerisches Anliegen von Till F. E. Haupt liegt in einer kreativen, d.h. schöpferischen und somit ungewöhnlichen Bewältigung des Lebens. Eine dies darstellende Materialsammlung ist Grundlage für ein Gestaltungskonzept das praktische Leben betreffend: Es umfasst Wohnstätte, Arbeitsplatz und Tätigkeit, sowie Standort und Lebensart. Der Künstler stellt mit Witz und Ironie die eingefahrenen Denkschemata des zivilisierten Menschen infrage und bietet Möglichkeiten der Bewältigung und neue Formen des kommunikativen Austauschs beispielsweise durch „Kreativitätstraining“, welches dem Kunstinteressierten in einer sozialen Performance zugänglich gemacht wird. Gunilla Jähnichen stellt in ihren naiv anmutenden Bildern Traumwelten dar. Assoziative Ideen, die an die Kindheit ankoppeln, Vorstellungen von idealen Kinderwelten werden durch die Protagonistin der Bilder hervorgerufen. Die dargestellten kindhaften Wesen lösen beim Betrachter einen Beschützerinstinkt aus, man fühlt sich in die intensive Welt des Kindseins zurückversetzt. Auf der anderen Seite spielen die teilweise stereotyp wirkenden Figuren mit den Vorstellungen von Macht und Gewalt, welches in Kontrast zu dem Bild des Niedlichen steht. Der Mensch als Hauptakteur und das Tier und Monster als Gegenspieler werden in großformatigen Acrylbildern gegenübergestellt, so dass eine ähnliche narrative Situation wie in Märchen und Fabeln entsteht. Das Anliegen dieser Arbeiten liegt in der Konstitution eines Ichs durch das Einnehmen verschiedener Rollen, denen der Mensch in Alltagssituationen in Form von sozial geprägten Klischées begegnet. Diese Klischées werden in den Arbeiten ironisch gebrochen. Streifzüge durch die Industriewüsten des Hamburger Freihafens. Thomas Jehnert setzt die entstehenden lebensgroßen Holzfiguren in Bezug zum Fundort des Materials. Der Ort des Fundes bietet dem Künstler einen atmosphärischen Raum, in dem bereits eine Bildidee entsteht. Der Kontrast zwischen Ursprungsort, meist der Hamburger Freihafen, und dem künstlerischen Ergebnis lässt eine Spannung entstehen, die den Betrachter gefangen nimmt. Die Bearbeitung des Holzes ist ein zentraler Aspekt der Inhaltlichkeit. Motorsäge, Axt, Feuer und Verwitterung lassen durch Zerstörung Neues entstehen. Der Balanceakt zwischen physischem Aufbegehren und physikalischer Destruktion ist diesem Prozess immanent. Es entstehen nicht nur aufrechte, selbstbewusste Figuren mit eigenem Charakter, sondern auch fragmentarische Bilder, Spuren eines vorangegangenen Arbeitsprozesses. Diese Arbeiten transportieren Gefühle innerer Spannung und Aggressivität. Sie verwandeln sich in ein Bild, welches den Ausdruck von Destruktion impliziert, werden aber gleichzeitig zu einem Symbol tiefer Verbundenheit mit der Natur, die sie hervorgebracht hat. Diese sogenannten Körperbilder vermitteln die Kontroverse zwischen Virtualität und körperlicher Präsenz. Es stellt sich die Frage nach Relevanz oder Irrelevanz eines menschlichen Körpers; ist der Menschenkörper im Zeitalter von Cyberspace und Robotik nicht eher ein Hindernis? Oder entspringen die Figuren diesem Zweikampf als Zeichen der Selbstbehauptung in einer wahnsinnig gewordenen Welt? Dieser Welt werden die Figuren entgegengestellt und sagen: Dieser Körper ist ein Zuhause, erbärmlich, nackt und verletzbar. Und dennoch ist der dargestellte Protagonist ein fester Bestandteil der Natur. Wo soll ein Geist wohnen, wenn der Körper nutzlos geworden ist?
Die Arbeiten von Birgit Lindemann, die auf drei Dimensionen interagieren, geben die Auseinandersetzung mit Raum und Körperlichkeit wieder. Der Betrachter kann sich plastisch mit den Arbeiten beschäftigen, sich in ihnen bewegen, sie erkunden, sie berühren. Das visuelle Erfahren wird mit dem körperlichen Erlebnis verbunden. Die Wechselwirkung verstärkt das Bewusstsein des eigenen Körpers im Raum und als Teil des Kunstwerkes. Durch seine Bewegung hat der Betrachter einen unmittelbaren Einfluss auf die Werke und deren Wahrnehmung. Die unterschiedlichen Facetten des Stoffs in Bezug auf Transparenz und Dichte reflektieren die molekulare Verbindung des Lebens. Die Beschaffenheit und die Bearbeitung des Stoffes vermitteln gleichzeitig Gewicht und Leichtigkeit, Schwerkraft und Schwerelosigkeit. Birgit Lindemann verbindet Siebdruck mit Stoff. Portraits verknüpft die Künstlerin mit Texten, die teilweise aus ihrer eigenen Feder stammen, teilweise literarischen Werken entnommen sind. Sie greift aber auch auf Briefe und Aussagen der dargestellten Personen zurück. Die Texte geben Erinnerungen und Gedanken der Künstlerin und anderer Personen wieder, die sich auf den privaten wie auch den politischen Bereich beziehen. Die rasterartige Überlagerung verschiedener Ebenen und die Betrachtung aus unterschiedlichen Blickwinkeln, im allgemeinen und im einzelnen, führen in jedem Fall zu einer distanzierenden Selbstreflexion. Susanne Reizlein konzipiert und modelliert Installationen . vornehmlich mit Diaprojektion oder Video, die den Besucher in das Kunstwerk eintreten lassen. Sie schafft Berührungspunkte zwischen Betrachter und Werk, die – formal wie inhaltlich – eine dialektische Auseinandersetzung zwischen Innen und Außen aufwerfen. Innenleben und äußere Einflüsse werden kontextualisiert, indem Befindlichkeiten, Gefühle und Fiktionen in Bezug zur Gesellschaft gesetzt werden. Das Immaterielle der Projektionen, die Entstehung eines magischen Momentes sind zentrale Aspekte, die den Betrachter Teil der Installation werden lassen. Die orts- und situationsspezifischen Gegebenheiten sind wichtiger Bestandteil der Arbeiten, da die Künstlerin den Moment des Betrachtens in dem jeweiligen Ausstellungskontext als Schnittstelle zwischen privatem und öffentlichen Raum betrachtet. Die zentrale Aussage der Arbeiten von Philipp Schewe ist der Mensch als Jäger und Sammler. In konstruierten Räumen stellt er Photographie, Videoaufnahmen, Performance und auch Objektkunst zu Installationen zusammen, in denen verschiedenste Alltagssituationen reflektiert werden. Die Rekonstruktion und Wiederverwertung individueller Phänomene und persönlicher Ereignisse soll menschliche Sehnsüchte und das Scheitern der Träume veranschaulichen. Die Bereitschaft zur völligen Entblößung, die in Form von Selbstversuchen des Künstlers verdeutlicht wird, ist ein prototypisches Mittel, um eine Infragestellung der eigenen Person zu ermöglichen und dem Betrachter zu illustrieren. Vergrößerte Ausschnitte von Plastiktüten sind zur Zeit das Ausgangsmaterial und die Keimzelle der Arbeiten von Sebastian Zarius. Diese, der Polyäthylenwelt entrissenen „Gemälde“ betrachtet der Künstler als eigenständige Bilder, die manchmal aufgrund von beispielsweise Farbkombinationen an ihre eigentliche Herkunft erinnern, jedoch nicht erkannt, sondern nur assoziativ erahnt werden. In Gedanken an Malerei und Minimalismus aber auch an die Rekonstruktion von archäologischen Fundstücken überträgt der Künstler aus den Farb- und Formwelten des Alltags Bilder in die Welt der Kunst. Durch diese Technik entsteht ein Kosmos, der eine kaum enden wollende Bilderflut in sich trägt. Ein exzerpierter, entliehener Mikrokosmos ist für den Betrachter der Ausgangspunkt und Quelle für unendlich viele Assoziationsmöglichkeiten, in denen er sich aber nicht unbedingt verlieren muss, sondern seine persönliche Nische durchaus finden kann. In einem Teil seiner skulpturalen Arbeit nutzt der Künstler u.a. die Transparenz eines Materials. In weißlackierte Holzleisten gefasstes, zum Teil eingefärbtes Paraffin bildet lichtdurchlässige „Wachsstäbe“, die durch Transparenz, Farbigkeit und Form an Neonröhren erinnern und die in Gruppen aber auch individuell objekthaft oder raumbezogen installiert werden.